Oliver Remund
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„Bist du ein Engel? Ist die Zeit gekommen?“ Nephiel atmete unsagbar schwer aus. Er ließ seine dunklen Flügel sinken und seufzte: „Ich warte schon so lange.“
„Wer weiß.“ Jester hockte sich auf einen der kantigen Felsen und begann mit drei Stoffbällen zu jonglieren: „Vielleicht bin ich das.“
Nephiel drehte sich nicht um. Sein Blick verlor sich in der Dunkelheit vor ihm: „Was willst du?“
„Oh, es geht nicht darum, was ich will“, antwortete Jester schnell, mit leicht arrogantem Unterton. „Es geht darum, was du willst.“ Er kicherte, während die Glöckchen an seiner Narrenkappe leise klingelten.
„Lass mich in Ruhe.“ Nephiel beugte sich mit dem Oberkörper nach vorne und sah auf den kargen Boden. Überall verstreut lagen Knochen und abgebrochene Hörner.
„Aber ich will doch nur ein bisschen plaudern!“ Das aufgemalte Lächeln auf Jesters Maske blitzte heimtückisch auf und leichter Nebel kroch über den Boden, während die Stoffbälle hoch in der Luft tanzten.
Nephiel drehte seinen Blick zu ihm und hob die Hand auf Schulterhöhe. Die Bälle platzten auf wie faule Früchte und Fetzen regneten zu Boden: „Lass mich in Ruhe – oder du stirbst.“
„Was sie dir angetan haben, war nicht fair. Sehnst du dich nicht nach Gerechtigkeit?“
Jester stand auf und machte einen Schritt nach vorn.
Nephiel fuhr herum, riss die Hände nach oben. Der Mann im Narrenkostüm zerflederte in tausend Stücke, die sich aber sogleich in blaugrauem Dunst verwandelten. Das Lachen des Clowns hallte umher.
Wie von Geisterhand fegte der Nebel über den Boden vor Nephiel und verdichtete sich dort wieder zum Narren: „Ich meine es doch nur gut mit dir.“
Angewidert suchte Nephiel ihn mit dem Blick auf und ließ ihn abermals explodieren: „Lass mich in Ruhe!“
Der Dunst wehte davon und Jester materialisierte sich neben ihm auf einem Felsen: „Du hattest genug Ruhe. Es ist Zeit zu handeln.“
Ein kurzes Kichern, dann zersprang der Felsen unter ihm zu Kies, und er löste sich wieder auf.
Nephiel brüllte: „Du hast keine Ahnung, wer ich bin!“
„Dann sag’s mir“, kam die Stimme aus dem Nebel, bevor sich Jester kopfüber vor ihm wieder manifestierte. In einem Handstand jonglierte er mit den Füßen kleine Steine: „Wer bist du denn?“
Nephiel packte Jester an der Seite und riss ihm den Kopf ab: „Ich bin Nephiel! Nemesis von Seraphis! Wer mich erzürnt, stirbt!“
Die Körperteile des Narren verflüchtigten sich wieder und wehten um Nephiels Gesicht, ehe Jester wieder auftauchte und frech auf Nephiels Hörner balancierte. „Ich würde dich doch nie erzürnen wollen.“ Sagte Jester spöttisch.
„Genau das tust du aber.“ Nephiel griff nach ihm, riss ihm ein Bein ab. Der Körper löste sich in Rauchfäden.
Nun etwas entfernter tauchte Jester wieder auf: „Mit deiner Macht solltest du Seraphis mühelos beanspruchen können. Wieso tust du es nicht?“
Nephiel setzte sich schwerfällig auf seinen Felsen. Ein Moment der Stille verstrich. Dann seufzte er: „Wenn wir reden – lässt du mich dann in Ruhe?“
„Schon möglich.“ Jester ließ sich ihm gegenüber auf den Boden sinken, formte aus Nebelschwaden drei neue Bälle und begann wieder zu jonglieren.
Resigniert erklärte Nephiel: „Ich bin hier, weil ich nicht das reine Blut der Engel habe.“
Jester neigte den Kopf zur Seite: „Das weiß ich. Aber solltest du dann nicht tot sein?“
„Sagen wir, ich hatte Glück.“
„Das reicht mir nicht.“ Einer der Bälle traf Nephiel am Kopf und zerplatzte zu Staub.
„Mach das noch einmal – und mein Zorn wird dich verzehren.“
„Oh, das klang aber bedrohlich! Lass mich raten: Du hast alle getötet, die dich hinrichten sollten?“
Nephiel nickte knapp.
„Also ein paar Engel massakriert – und jetzt wartest du hier auf Wiedergutmachung? Ziemlich dumm, findest du nicht?“
„Du hast keine Ahnung!“ Nephiels Stimme donnerte, während Jester erneut zerfiel.
Der Nebel formte sich zu feinen Strähnen, legte sich sanft um Nephiels Kopf: „Du bist niemandem Rechenschaft schuldig. Sie hingegen schulden dir alles.“
„GENUG!“ Nephiel erhob sich und hob beide Arme. Die Erde bebte. Felsen barsten und die Knochen unter ihnen zerfielen zu Staub. Der Nebel verflog und übrig blieb nur Stille.
Nephiel stand inmitten der Zerstörung und kniete schließlich nieder. Lange Sekunden vergingen, bis er schließlich den Kopf hob und voller Zorn und Verzweiflung in den Himmel brüllte.